Persönliche Erinnerungen
an Bruno v. Freytag Löringhoff
von Andreas Otte
1985 lernte ich die Bücher zur Logik von Bruno Baron v. Freytag Löringhoff und bald darauf auch die Person dahinter kennen. Ich möchte hier kurz beschreiben, wie es dazu kam und welchen Einfluß diese Begegnung auf mein Leben hatte.
Ende 1984 entdeckte mein Freund Detlef Mühle in einem Mathematik-Lexikon seines Vaters einen Abschnitt über die "Aristotelische Syllogistik". In der dort dargebrachten Form war die Thematik nicht gerade leicht verständlich. Diese Informationen ermöglichten es ihm aber, Anfang 1985 eine Radiosendung auf WDR 2 gut verfolgen zu können, in der es um Computerprogramme zur Untersuchung logischer Zusammenhänge auf der Basis aristotelischer Logik ging.
Da er selbst seit 1982 programmierte, war sein Interesse natürlich geweckt. Er zog mich mit hinzu, der ebenfalls seit 1982 programmierte und um Ostern 1985 entstanden so die ersten Logik-Programme auf rein syllogistischer Basis und zwar in der Programmiersprache BASIC auf einem ZX81 von Sinclair und in RIL, einem BASIC - PASCAL Gemisch, auf einem Apple II+ kompatiblen Rechner.
Gegen Ende des laufenden Schuljahres 84/85 erfuhr Detlef, daß ein Lehrer, Herr OStR Gerhard Gillhoff, an unserer Schule (dem Widukind Gymnasium in Enger) vergeblich eine LOGIK-AG angeboten hatte. Als Teilnehmer an einem bereits bestehenden Philosophie-Kreis, dessen Leiter Herr Gillhoff war, fragte er ihn nach der LOGIK-AG.
Herr Gillhoff zeigte ihm die Bücher "LOGIK I" (1955) und "LOGIK II" (1967) von Prof. Dr. B. Baron v. Freytag Löringhoff aus Tübingen, die, wie er meinte, sehr gut und brauchbar wären.
Herr Gillhoff hatte 1957/58 in Tübingen studiert, zwar nicht die Logik-Vorlesungen des Professors besucht, aber immerhin mitbekommen, daß dort etwas ablief und sich nach und nach die Bücher gekauft, weil ihn das Thema interessierte.
Detlef schrieb sich die Titel auf und kaufte sich nach kurzer Zeit "LOGIK I" in der fünften Auflage von 1972. "LOGIK II" war schon lange nicht mehr erhältlich. Er las es durch, und lieh es mir. Ich las das Buch zu Beginn der Sommerferien und gemeinsam wurden zahlreiche Nachmittage im Spenger Freibad mit dem Durcharbeiten des Buches verbracht. Im Gegensatz zu vielen anderen Logik-Büchern wirkte dieses Buch eher erhellend. Es verursachte bei mir den berühmten AHA-Effekt. Gegen Ende der Sommerferien kaufte ich mir dann auch "LOGIK I" und stieß mit Beginn des neuen Schuljahres zu Herrn Gillhoffs Philosophie-Kreis hinzu.
Gemeinsam wurde bald darauf die LOGIK-AG, bestehend aus nur drei Mitgliedern, gegründet. Zunächst wurde versucht, an möglichst alle Veröffentlichungen des Professors und seiner Schüler zum Thema Logik heranzukommen. Darunter war auch ein Artikel aus dem Jahre 1970 mit dem Titel: "Eine vorläufige Mitteilung über ein Verfahren, Theorien und dergleichen mit Hilfe eines Computers logisch zu untersuchen". Die, wenn auch etwas dürftigen, Informationen zur Matrixmethode des Professors genügten, um nach einer etwa einmonatiger Einarbeitung mehrere BASIC Programme zu schreiben. Da war zunächst ein rein syllogistisch funktionierendes Programm für beliebig viele Begriffe, das auf der Matrixmethode basierte. Danach entstand ein Programm, das mit nur zwei Grundbegriffen, dafür aber mit allen aus den Grundbegriffen definierbaren Begriffen arbeitete. Hier wurden erste Erfahrungen im Zusammenhang mit der in "LOGIK II" eingeführten Definitionstheorie gesammelt. Beide Programme wurden mehrfach geändert und erweitert. Die Arbeit gipfelte schließlich in einem Programm, das mit drei Grundbegriffen und allen daraus definierbaren Begriffen arbeitete. Die Matrix in diesem Programm hatte bereits 256 x 256 Felder und damit waren die Speichergrenzen des verwendeten Apple II+ - kompatiblen Rechners erreicht. Außerdem war das Programm aus Geschwindigkeitsgründen bereits komplett in 6502-Assembler geschrieben. Trotzdem brauchte es für eine vollständige Abarbeitung der Matrix mehrere Stunden. Diese Programme arbeiteten deduktiv, d.h., sie versuchten aus den vorgegebenen Beziehungen alles zu folgern, was möglich war. Der Ausdruck der grundlegenden Matrix mit den axiomatischen Begriffsbeziehungen kann noch heute bei mir besichtigt werden. Die Wandtapete zeigt in einem wunderschönen geometrischen Muster die grundlegenden Beziehungen der Definitionstheorie.
Anfang 1986 trat dann eine gewisse Stagnation auf, da alle verfügbaren Informationen ausgenutzt worden waren. So entschloß sich Herr Gillhoff im April 86 an das Philosophische Seminar der Universität Tübingen zu schreiben, um aktuellere Informationen zu erhalten. Als nach etwa drei Wochen noch keine Antwort eingetroffen war, schrieb auch ich einen Brief, diesesmal aber an die letzte verfügbare Privatadresse des Professors, die aus der letzten gefundenen Veröffentlichung von 1974 stammte. Mitte Mai kamen fast gleichzeitig die Antworten auf beide Briefe.
Nicht schnell genug konnten die Buchhandlungen der Umgebung das bereits Anfang 1985 erschienene "LOGIK III" mit dem Titel "Neues System der Logik" beschaffen, das in den Katalogen der Universitätsbibliothek Bielefeld Mitte bis Ende 1985 noch nicht verzeichnet gewesen war. Die darin abgedruckten Beispielprogramme waren eine große Hilfe, die weitreichenden Erweiterungen zu durchschauen.
Das eine Beispielprogramm arbeitete wie die bisherigen Programme, also deduktiv. Eine neue Methode behandelte das zweite, das abduktive Beispielprogramm, das bei angegebenen Prämissen und Konklusionen, die fehlenden verborgenen Prämissen fand.
In aller Schnelle entstanden neue Programme auf dem Apple II+ Nachbau, die das inzwischen fast vollständig symmetrisch gewordene und erweiterte Regelwerk Herrn v. Freytags berücksichtigen. Detlef schrieb ein deduktives Programm für einen Sharp Pocket Computer mit nur 3 kB Speicherplatz.
Gern wurde auch das Besuchsangebot in Tübingen angenommen. So startete die LOGIK-AG am 20.6.1986 zu einer dreitägigen Besuchsfahrt nach Tübingen, um sich über den neuesten Stand der Logikforschungen des Professors zu informieren.
Tübingen ist in jedem Fall eine Reise wert
Dieser hatte nach seiner Pensionierung zunächst mit einem CBM 4032 gearbeitet und war später auf einen IBM PC umgestiegen. Am frühen Abend des 20. war die Tübinger Jugendherberge noch geschlossen. So wurde zunächst durch die schöne Altstadt gebummelt. Am nächsten Morgen kaufte ich schnell noch einen neuen Stadtplan. Mit Herrn Gillhoffs altem Stadtplan von 1957 wäre die Brunsstraße in dem Einbahnstraßendurcheinander nicht pünktlich zu finden gewesen. Pünktlich um 10:30 betraten wir das Haus in der Brunsstraße. Der folgende, hier nur auszugsweise wiedergegebene, Bericht von Herrn Gillhoff wurde 1987 in der Jahresschrift des Fördervereins des Widukind Gymnasiums Enger veröffentlicht:
Wir sitzen um einen türkischen Tablett-Tisch, es gibt Tübinger Laugenbretzeln mit Butter und Kaffee, und wir sollen zunächst unsere Geschichte erzählen. Herr v. Freytag ist erfreut und überrascht, wie weit der alte Aufsatz uns geführt hat und wie souverän Detlef mit seiner Symbolik umgeht. Darauf erzählt er, wie er in langen Jahren eng mit dem Tübinger Rechenzentrum zusammengearbeitet hat, wie er dann nach seiner Emeritierung in eine Phase der Resignation geraten sei, bis die allgemeine Verfügbarkeit der Kleinrechner neue Chancen zu eröffnen versprach. Und da hat er sich mit über siebzig Jahren daran gemacht, seine Weiterentwicklung der aristotelischen Logik auf diese neuen Rechner zu programmieren.
Das Ergebnis sehen wir nun an der Rechenanlage: Das Programm soll die Testaufgabe aus dem neusten Buch lösen. Die Begriffe werden durch verschiedene Farbkreise charakterisiert, die Beziehungen zwischen ihnen durch Farben und Stricharten unterschieden. Die schöne graphische Darstellung läuft über den Plotter, so daß wir sie zur Anschauung mitnehmen können. Jeden Schritt der Bearbeitung verfolgen wir auf dem Bildschirm; der Drucker gibt alle möglichen Folgerungen aus, auch der logische Weg zu jeder Folgerung wird protokolliert. Dieses leistet das deduktive Programm. Das abduktive Programm erschließt verborgene Prämissen und gibt alle logisch möglichen Voraussetzungen einer Konsequenz an. Auch hiervon erhalten wir Ausdrucke. Dieses Programm soll noch benutzerfreundlicher werden.
Bei Tisch erkundigt sich Frau v. Freytag nach unseren Verhältnissen, Enger ist von Tübingen aus natürlich gar nicht sichtbar, und auch Bielefeld liegt sehr weit im Norden; die Tochter, sie ist Archäologin, erzählt von Ausgrabungen in der Türkei, es geht über Computerfirmen, über die Logik der Debatte, Herr v. Freytag empfiehlt Hamilton und erzählt eine Anekdote:
Im Physikunterricht ist die Parallaxe und ihre Bedeutung für das räumliche Sehen erklärt werden. Der Lehrer gibt das Beispiel, daß der einäugige Polyphem das Schiff des fliehenden Odysseus' mit dem Felsbrocken verfehlt, weil man Entfernungen nur mit zwei Augen abschätzen kann. Ein Schüer meldet sich: Odysseus hatte Polyphem doch geblendet! Der Lehrer: Das kommt noch hinzu!
Und schließ geht es um Beispiele möglicher Anwendung der Logik: Eine Firma will ein neues Produkt auf den Markt bringen, und in der Leitung werden die Argumente dafür zusammengefaß. Ergibt die Untersuchung mit dem deduktiven Programm, daß der Schluß das Produkt einzuführen, nicht aus den Argumenten folgt, so muß es keineswegs falsch sein, die Produktion anlaufen zu lassen, nur die Begründung ist unzureichend; ergibt die Suche nach den verdeckten Hypothesen, daß zur Begründung eine offensichtlich falsche Hypothese gebraucht wird, ist es höchste Zeit für praktische Konsequenzen.
Beim Nachtisch - Erdbeeren mit Vanilleeis und Sahne, dazu Kaffee - macht Herr v. Freytag mit einem zweiten Beispiel ein weites Anwendungsfeld deutlich. Soll ein Vertrag zwischen zwei Partnern geschlossen werden, die in verschiedenen Rechtsgebieten zu Hause sind, wie das im vereinigten Europa immer häufiger geschieht, muß der Vertragsgegenstand zunächst im jeweiligen Rechtssystem definiert werden. Um dann eine logisch tragfähige Brücke zwischen beiden Systemen zu konstruieren, sind die Programme äußerst hilfreich. Für so komplexe Systeme wie das des Rechts reichen die Speicher und die Analysegeschwindigkeiten heutiger Kleinrechner allerdings noch nicht.
Wieder im Arbeitszimmer sprechen wir über Textanalyse: z.B. läßt sich die Frage beantworten, was ein Autor unter seinen Begriffen verstanden haben muß, wenn er logisch gedacht hat. Um Mißverständnisse auszuschließen, schlägt Andreas vor, ein argumentatives Buch sollte sein logisches Skelett im Anhang mitliefern. Bei dieser Gelegenheit berichtet Prof. v. Freytag von der auch ihn überrschenden Erfahrung, wie wenig wirklich argumentierende Texte es gibt. Auch bei der Untersuchung zentraler Stellen in Kants Kritik der reinen Vernunft ist er auf den alten logischen Fehler gestoßen, daß die Konsequenz zugleich unausgesprochen eine notwendige Prämisse ist. Andreas kommt auf sein Lexikon-Projekt zu sprechen, das er schon in einem Brief entworfen hatte: Welches ist z.B. die logische Struktur von 'aber'? Prof. v. Freytag wirft eine Handskizze aufs Papier. Das ist ein weites Feld künftiger Arbeit, denn Texte müssen in die Symbolik übersetzt werden, bevor die Programme sie bearbeiten können. Im Aufbruch tauschen wir noch Druckfehlerlisten zu Logik III aus, es folgen die Eintragungen ins Gästebuch und der Abschied von Frau Freytag, unten auf dem Bürgersteig fragen wir noch, ob eine Neuauflage von Logik II geplant sei. Prof. v. Frytag würde eine Zusammenfassung aller drei Bände zu einem neuen System der Logik bevorzugen.
Voll neuer Pläne verlassen wir um 18:15 Uhr die Brunsstraße und genießen den Sommerabend auf dem Marktplatz.
Nach abendlichen heftigen Diskussionen ging es dann am 22. nach einem kurzen Aufenthalt in der Klosteranlage Bebenhausen zurück in die Heimat. Der Besuch war wohl für beide Seiten hochmotivierend.
Die Jugendherberge von Tübingen
Kurz darauf schied ich zumindest offiziell aus der LOGIK-AG aus, da ich nach erfolgreicher Beendigung meiner Schullaufbahn ab dem 1.7.86 zu einem auf 15 Monate begrenzten Beschäftigungsverhältnis in Staatsdiensten antreten mußte.
Die LOGIK-AG wurde auch in dem folgenden Schuljahr noch weitergeführt, krankte aber an mangelndem Interesse. Der bestehende Kontakt zu Herrn v. Freytag wurde im wesentlichen durch mich weitergeführt und ausgebaut, ich gestaltete mir so unter anderem meine Dienstzeit etwas interessanter. Durch die unterschiedlichen Computer war es nicht möglich, die Programme direkt auszutauschen, wodurch die Zusammenarbeit mit dem Professor etwas litt.
Mit Ende des Schuljahres 1986/87 beendete dann auch Detlef seine Schullaufbahn erfolgreich. Damit war die LOGIK-AG im wesentlichen ihrer Substanz beraubt. Gleichzeitig erschien aber in der Zeitschrift des Fördervereins des WGE ein Bericht über die letztjährige Fahrt nach Tübingen. Die LOGIK-AG konnte mit Beginn des neuen Schuljahres doch weitergeführt werden, da der Artikel ein wenig Interesse geweckt hatte, letzlich blieb aber neben Herrn Gillhoff nur noch Curd Bergmann über, der auf einem Commodore Amiga 500 programmierte.
Im Oktober 1987 nahm Detlef das Studium der Mathematik in Bielefeld auf und ich begann, nach Ende meiner Dienstzeit, das Studium der Informatik in Paderborn. In Paderborn lehrte auch Dr. J.-M. v. Petzinger, der "Starschüler" v. Freytags, und ich suchte natürlich sofort Kontakt, der auch zustande kam.
Eine ständige Arbeitsgruppe entstand, die mein gesamtes Studium überstand. Die interdisziplinäre Arbeit v. Petzingers sowie seine Sicht der Arbeit v. Freytags aus einer anderen Perspektive waren und sind sehr interessant.
Außerdem änderte sich die Rechnersituation, da nunmehr in der Paderborner Uni eine Zugriffsmöglichkeit auf IBM PC's und Kompatible bestand. Anfang 1988 verfügte ich dann auch über einen eigenen PC. Schnell wurde das deduktive Programm neu für den PC geschrieben, und zwar in der Programmiersprache PASCAL. Es entwickelte sich ein reger Diskettenaustausch mit Herrn v. Freytag in Tübingen. Die Programme der TÜBINGER-LOGIK wurden laufend verbessert und benutzerfreundlicher gemacht. Aber auch theoretische Diskussionen wurden geführt. Hauptsächlich ging es darum, das System in diese oder jene Richtung zu erweitern. Z.B. war ein Thema die Eliminierung der Identität aus der Axiomatik der Begriffslogik.
Die LOGIK-AG hatte sich in ein rein privates Treffen bei Herrn Gillhoff verwandelt, wo man sich gelegentlich traf und die neusten Informationen austauschte. Dort wurde auch ein erneuter Besuch in Tübingen beschlossen, der dann vom 8. bis zum 10. April 1988 stattfand, diesmal aber zu viert. Noch am späten Nachmittag des 8., kurz nach der Ankunft, traf ich mich allein mit Prof. v. Freytag. Es ging um die Anpassung der logischen Grafik auf Computern mit den damals weitverbreiteten Hercules-Grafikkarten. Die gesamte LOGIK-AG traf sich am 9. mit Herrn v. Freytag. Es begann wie üblich um 10:30, endete diesesmal aber erst weit nach 22:00. Am 10. April wurde wieder zurückgefahren.
Von links nach rechts: Curd, Andreas, Herr Gillhoff und Detlef
Kurz darauf beendete dann auch Curd seine Schullaufbahn. In der Folgezeit wurde der Kontakt mit Tübingen immer intensiver, und vom 13. bis zum 15. September 1988 unternahmen Detlef und ich einen erneuten Besuch in Tübingen. Da die Jugendherberge total überfüllt war, wurde in der Wohnung v. Freytags genächtigt.
Das Tübinger Rathaus
Hauptsächlich wurde wieder an den Programmen gearbeitet, es gab aber auch Diskussionen zur Theorie. Am Ende des Besuches kam ein altes, aber drängendes Problem zur Sprache: Eines der größten Probleme in der Logik ist die Vollständigkeit der Lösungen, sobald definierte Begriffe mitspielen. Dieses Problem ist nur durch die Einführung immer komplizierterer Regeln und/oder die Einführung immer weiterer definierter Begriffe zu lösen. Im Extremfall können das 2(2n) Begriffe bei n Grundbegriffen sein. Das ist sowohl vom Speicherplatz-, als auch vom Zeitaufwand her unvertretbar.
Die doch relativ einfache Frage, ob aufgrund gegebener Prämissen eine bestimmte Konklusion FOLGT oder NICHT FOLGT, kann dem deduktiven Programm erhebliche Schwierigkeiten bereiten, wenn es nicht über genügend komplexe Regeln verfügt und/oder genügend definierte Begriffe eingebaut hat. Findet sich nach dem Durchlauf des Programmes neben meist vielen anderen die gesuchte Konklusion als Folgerung, so ist alles in Ordnung. Ist sie aber nicht vorhanden, so gibt es zwei mögliche Erklärungen: Erstens, die Konklusion folgt wirklich nicht, oder zweitens, es waren nicht die benötigten Regeln und/oder definierte Begriffe vorhanden, um die gesuchte Konklusion folgern zu können. Das ist eigentlich ein unhaltbarer Zustand.
Es wurden also Überlegungen angestellt, wie dieses Problem in effizienter Weise mit der Matrixmethode zu lösen sei, und Herr v. Freytag erzählte von den Arbeiten, die bereits Anfang und Mitte der siebziger Jahre zu diesem Thema stattgefunden, aber kein 100 %iges Ergebnis erbracht hatten.
In diese Atmosphäre stieß nur eine knappe Woche nach dem Besuch, mitgebracht von Detlefs Bruder Michael, eine Beispielaufgabe, die ein Mathematiklehrer des WGE, Herr OStR Wolfgang Ruwe seinen Schülern in einer Vertretungsstunde als Beschäftigungsaufgabe gegeben hatte. Zu gegebenen Konklusionen sollte herausgefunden werden, ob sie aus den ebenfalls gegebenen Prämissen folgten oder nicht.
Detlef fiel bei dem Versuch, die Aufgabe zu bearbeiten, ein, daß ein geeignetes Mittel, solche Probleme zu lösen, die bereits in "LOGIK II" ausführlich besprochenen Diagrammtechnik von Venn war. Allerdings enthielt die Beispielaufgabe sechs Grundbegriffe und ein Venn-Diagramm für sechs Begriffe ist sehr schwer herzustellen und noch schwieriger zu bearbeiten. Fast übergangslos entstand die Idee, die Diagrammtechnik von der graphischen Darstellung zu trennen und auf ein Computerprogramm zu übertragen. Recht schnell schrieb ich erste Versionen des VENN-Programmes für den PC, die Konklusionen auf FOLGEN oder NICHT-FOLGEN testen, widersprüchliche Begriffslagen finden, sowie in einem wesentlich größeren Rahmen als v. Freytags Programm abduktive Probleme lösen konnten.
Parallel schrieb Detlef ein VENN-Programm mit den gleichen Möglichkeiten für seine Sharp Pocket-Computer.
Das VENN-Programm, aber auch die TÜBINGER-LOGIK wurden in der Folgezeit weiterentwickelt. Besonders die Entwicklung am VENN-Programm führte mit der Zeit zu Ergebnissen und Anwendungsmöglichkeiten, an die vorher keiner gedacht hatte. Es stellte sich heraus, daß die Theorie der VENN-Diagramme es auch erlaubte, Beweise zu führen, eine Art Deduktion zu leisten, sowie überflüssige Prämissen zu finden.
Zwischenzeitlich verfügte dann auch Detlef über einen etwas größeren Computer. Es entstanden Logik-Programme für den Schneider CPC 464.
Im Sommer 1989 arbeitete ich weiter an den Programmen der TÜBINGER-LOGIK. Das Grafikprogramm wurde auf fast allen Grafikkarten einsetzbar, das deduktive Programm wurde um einige Regeln erweitert, sowie die Ausgabe des Beweis-Protokolls wesentlich verbessert.
Auf dem Tübinger Hochschulforum (20.9.89 bis 21.9.89) wurden sowohl die TÜBINGER-LOGIK, als auch das VENN-Programm einem breiteren Publikum vorgestellt. Organisiert wurde das Forum von Herrn Oberhoff von der Firma IBM. Dazu waren Detlef und ich kurzfristig auf Einladung des Professors nach Tübingen gereist, trotz meiner anstehenden Vordiplomsklausuren. Die Jugendherberge war natürlich wieder vollständig besetzt, so mußte erneut bei Prof. v. Freytag übernachtet werden.
Noch am Abend des 19. mußte zunächst ein Problem mit den von IBM zur Verfügung gestellten Disketten gelöst werden. Eine Scheinlösung, wie sich später herausstellte. Das Forum selbst war ein großer Erfolg, auch wenn wohl kaum jemand etwas von den verteilten Logik-Demodisketten gehabt hat (s.o.). Noch am Abend des 21. begannen wir mit der Rückreise.
In der folgenden Zeit wurden sowohl das VENN-Programm als auch die TÜBINGER-LOGIK in wichtigen Details verändert und erweitert. Ein verbesserter Zusammenfassungsalgorithmus für die Deduktion und Individualbegriffe in Beweisen im VENN-Programm, sowie automatische und halbautomatische Aufgabenabläufe in der TÜBINGER-LOGIK. Außerdem entstand eine englische Version der TÜBINGER-LOGIK. Ein erster Versuch, die Prädikatenlogik (monadisch) in das VENN-Programm einzubauen, schlug fehl. Ich habe es seitdem noch nicht wieder versucht, obwohl es theoretisch möglich sein müßte.
Positiv entwickelte sich mein Kontakt zu den Herren Tauber und Lansky von der Uni Paderborn. Für mich wurde das VENN-Programm, sowie die dazugehörige Theorie als Diplomarbeit in Aussicht genommen.
Auf dem DDR-Hochschulforum (19.6.90 - 21.6.90) wurden die Programme erneut einem breiten Publikum vorgestellt.
Der Stand in Berlin
Über 150 Disketten wurden von jedem Programm verteilt und diesmal ohne Probleme. Am Abend des 21. brachten Detlef und ich Professor v. Freytag Löringhoff in Hünfeld vorbei, wo er am nächsten Tag an den Festlichkeiten zum 80. Geburtstag von Herrn Konrad Zuse teilnehmen wollte.
Bruno v. Freytag Löringhoff in Aktion
Nach dem DDR-Hochschulforum fügte ich (aufgrund zahlreicher Wünsche) dem VENN-Programm ein Grafikmodul hinzu, allerdings nur für EGA- und VGA-Grafik, sowie nur für bis zu fünf Grundelemente.
Die LOGIK-AG entschlief nun ganz sanft und ebenso erging es dem Kontakt mit Herrn Gillhoff.
Im Herbst 91 nahm die Idee zu einer Diplomarbeit zum Thema Venn-Diagramme konkrete Formen an und ich begann mit den Vorbereitungen zu der Arbeit, im wesentlichen eine theoretische Untermauerung. Offizieller Arbeitsbeginn meiner Diplomarbeit war der 1. November 1992. Als Ergebnis dieser theoretischen Arbeit schrieb ich das VENN-Programm nocheinmal neu in der Programmiersprache C++, um zusätzliche Ideen und verbesserte Algorithmen zu integrieren.
Anfang April 93 kam ein erneuter Kontakt mit Hern Gillhoff, der inzwischen pensioniert war, zustande, der ankündigte, demnächst eine "Philosophische Praxis" eröffnen zu wollen.
Nocheinmal traf ich mich im Juni 1993 mit Prof. v. Freytag sowie Herrn Oberhoff anläßlich eines Tages der offenen Tür in der Heidelberger IBM Geschäftsstelle. Danach begann dann für mich der Ernst des Lebens, also das Arbeitsleben. Die Zeit, die ich der Logik widmen konnte, wurde natürlich geringer, und so beschränkte sich mein Kontakt mit Herrn v. Freytag in der Folgezeit auf gelegentliche Telefonate sowie den Austausch der neusten Versionen der TÜBINGER-LOGIK und des VENN-Programmes.
Die Nachricht von seinem Tod am 28.2.96 kam dann sehr überraschend für mich.
Persönliche Erinnerungen
an Bruno v. Freytag Löringhoff
von Rainer Würgau
Ich begann in den frühen 60er Jahren in Tübingen Germanistik und Philosophie zu studieren. "Der Baron" stand damals auf der Höhe seines Ansehens, intra et extra muros, und die älteren Semester rieten den jüngeren: "Ja den solltest du unbedingt hören, der hat diese alte Rechenmaschine des Freundes von Kepler rekonstruiert, wie hießer gleich? Schickard!"
Im Straßenbild Tübingens aber fiel der Baron durch sein originelles Vehikel auf, einen VW-Käfer des Baujahrs 1949, mit geteiltem Rückfensterchen, damals schon ein selten gewordener Anblick. Von diesem Auto und vom Baron erzählte man sich in der Münzgasse - im philosophischen Seminar - , dass er es aus Neugier und zu seiner Erholung schon einmal in sämtliche Einzelteile zerlegt und danach wieder richtig zusammengesetzt habe. Ob das stimmt, kann ich nicht sagen. Jedenfalls imponierte der Baron in Tübingen nicht nur der autobegeisterten Jugend (so was gab es damals noch), sondern auch älteren Bürgern, - der Tüftler steht unter den Schwaben ja in hohem Ansehen.
Im Sommer 1963 besuchte ich erstmals die Freytag-Löringhoffsche Logikvorlesungen. Das Rechnen mit seinen Strichdiagrammen habe ich zwar wieder verlernt; dafür aber hat sich mir tief eingeprägt, wie er durch seinen Ansatz zu einer überraschend symmetrischen und ästhetisch hochbefriedigenden Anordnung der Syllogismen gelangte.
Ich sehe ihn noch vor mir im Audimax der Neuen Aula, als er diese - ich glaube irgendwie rösselsprungartige - Anordnung an die Wandtafel zeichnete, Kreide in der einen Hand, Wischer in der andern, denn das ihm vorschwebende Ganze entstand gewissermaßen dialektisch, durch partielle Negation seiner Entwicklungsstadien, wozu der Wischer. Diesen Entstehungsprozess begleitete er mit bedächtiger, manchmal stockender, aber immer konzentrierter Rede, stark mit summenden s-Lauten durchsetzt. Irgendwie erinnerte er mich an einen unter Hochspannung stehenden elektrischen Apparat. Was er uns zwanzig oder dreißig Hörern (übriggeblieben von 200 zu Semesterbeginn) durch diese Demonstration vermittelte, war der Gedanke, dass konsequent durchdachte Formalismen stets irgendwo ein figürliches Korrelat besitzen, in welchem die Rechnung gleichsam kaleidoskopisch aufgeht, sehr zur Freude des Forschers, der seine Mühe und Geduld auf dieses Weise belohnt sieht.
Eingeprägt hat sich mir auch eines seiner didaktisch-heuristischen Konzepte, der "Kalkülwechsel", d.h. sein Rat an Logiker, ähnliche logische Sachverhalte in verschiedenen Kalkülen zu formulieren, um der apparaturbedingten Blindheit zu entgehen.